The Carter Family
Das Leben in den Appalachen ist hart. Arbeit gibt es nicht viel, wenn man nicht gerade erpicht darauf ist, seine Lebenszeit durch die Schinderei in den Kohlegruben drastisch zu verkürzen. Und es ist auch nicht leicht, einfach wegzugehen. Wo sollte man schon hin? Die Gegend ist nur spärlich besiedelt, und durch die vielen Hügel und die mangelnde Infrastruktur ist auch kaum jemand sonderlich daran interessiert, sich Orte wie Maces Springs oder Butcher Holler genauer anzuschauen. Es braucht Improvisationstalent und noch etwas mehr Glück, um über die Runden zu kommen.
A.P. Carter weiss das sehr genau. Als er 1915 seine spätere Frau Sara Dougherty trifft - er ist gerade 22 Jahre alt -, bestreitet er seinen Lebensunterhalt damit, Obstbaum-Setzlinge vom Rücken seines Pferdes aus zu verkaufen. Vorher hat er als Schienenleger, Bauer und Hufschmied gearbeitet, doch der Erfolg ist jedesmal eher überschaubar gewesen, und so lag der nächste Herausforderung näher als als seine Hartnäckigkeit.
Doch es gibt auch Konstanten in Carters Leben. Schon früh fängt er, zu singen, in der Methodistenkirche in Mt.Vernon z.B., aber auch mit der Fiddle kann er einigermassen umgehen, und in den Barns und Bars gibt an den Wochenende immer irgendwo Auftrittsöglichkeiten. Praktischerweise spielt seine Frau Sarah Autoharp, so ist er schon bald nicht mehr alleine unterwegs in den abgelegenen Bergdörfern, wo die Menschen dankbar sind für jede Ablenkung von Hunger, Perspektivlosigkeit und den unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Minen.
Sarah's junge Cousine Maybelle hat zwischenzeitlich A.P.'s Bruder Ezra geheiratet und begleitet die beiden seit einiger Zeit auf der Gitarre, ein damals hauptsächlich von Frauen gespieltes Intrument. Sie hatte es trotz der weitestgehenden kulturellen Isolation geschafft, einen völlig eigenen Stil zu entwickeln, indem sie die Melodie auf den tiefen Saiten zupft und diese durch Schlagen der anderen Saiten begleitet; beinahe so, als ob zwei Gitarren gleichzeitig gespielt werden.
Etwa zur gleichen Zeit hat man bei Victor Records in New York ein grosses Problem. Für lange Zeit verbuchte man grosse Erfolge mit Aufnahmen von Enrico Caruso, doch das lag alles nun schon einige Jahre zurück und neue Talente und Künstler sind nicht leicht zu finden. Man beschliesst daher, sich den Produzenten Ralph Peer in's Boot zu holen. Dieser hatte zuvor für OKeh Records Mammie Smith's "Crazy Blues" aufgenommen, und er war auch derjenige, der New Orleans auf der musikalischen Landkarte etablierte, indem er dort die ersten kommerziellen Jazz- und Blues-Aufnahmen leitete.
Bereits ein paar Monate später findet sich Peer in den Appalachen wieder; sein alter Kumpel Ernest Stoneman, den Peer noch aus seiner Zeit bei OKeh kannte, hatte ihm den Tipp gegeben. Doch es gab noch einen zweiten Grund für dieses Reiseziel: Die Firma Victor stellt eine Art handbetriebenen Plattenspieler her, Vitrola genannt, dessen Absatzmarkt hauptsächlich in den landlichen Gebieten liegt, wo an eine flächendeckende Stromversorgung noch nicht zu denken ist. Und 2+2 kann man schon damals schnell zusammenzählen: Die ländliche Bevölkerung will selbstredend hauptsächlich Musik hören, die aus ihrer Mitte kommt, somit liegt nichts Näher, als auch dort nach Talenten zu suchen.
Peer entscheidet sich, in Bristol, Tennesee ein kleines Übergangsstudio einzurichten und der erste Künstler, der sich dort vor den Trichter stellt, ist - Ernest Stoneman. Suchanzeigen in den lokalen Blättchen bringen nicht den gewünschten Erfolg, doch als ein Artikel über Stoneman erscheint, indem behauptet wird, er habe mittlerweile 3600$ an Lizenzzahlungen für seine Aufnahmen von 1926 verdient, strömen so viele Musiker und Gruppen nach Bristol, das Peer Nachtschichten im Studio einlegen muss, um alle aufnehmen zu können.
Auch A.P. Carter kann seine hochschwangere Frau Sarah und Maybelle mit diesem Argument überzeugen, und so nehmen sie am 31. Juli 1927 ihre ersten sechs Songs auf, für die sie jeweils 50$ bekommen. "Wandering Boy" und "Poor Orphan Child" werden von Victor im Herbst 1927 auf einer 78rpm Schellack-Platte veröffentlicht; einige Monate später folgt eine weitere 78ger mit den Songs "The Storms Are on the Ocean" und "Single Girl, Married Girl".
Die Verkäufe sind ermutigend, und Peer läd die Family im Mai 1928 für weitere Aufnahmen nach Camden, New Jersey ein. Elf Songs werden ausgewählt, darunter Klassiker wie "Keep on the Sunny Side"; "Will You Miss Me when I'm Gone" und "Wildwood Flower", und AP, Sarah und Maybelle kehren mit 600$ und einem Vertrag, der ihnen eine bescheidene Beteiligung an den Verkaufserlösen garantierte, nach Maces Springs zurück. 1929 gibt es eine dritte Session, und am Ende des Jahres 1930 können sie auf über 700.000 verkaufte Schallplatten zurückblicken - eine für damalige Verhältnisse beeindruckende Zahl.
Für A.P. und seine Familie bedeutet das zusätzliche Einkommen natürlich einen Segen, zumal die amerikanische Wirtschaft am Boden liegt. Doch er merkte bald, dass das wirkliche Geld nicht mit den Vergütungen zu verdienen ist, die man für die Aufnahmen bekommt. Die Karriere Ralph Peers wird an dieser Erkenntnis nicht ganz unschuldig sein. Laut des Vertrages, den Peer bei Victor unterzeichnete, beträgt sein Jahresgehalt genau 1$ - doch dafür behält er sämtliche Urheber- und Verlagsrechte an allen von ihm aufgenommenen Songs. Durch diese Praxis hat er zu diesem Zeitpunkt bereits ein Vermögen von über einer Million Dollar (mehr als 10 Millionen Dollar heutzutage) verdient. Er ist auch überhaupt der erste, der den Künstlern (sehr bescheidene) Lizenzen zahlt, die von der Menge der verkauften Einheiten abhängen. Dies bildet heute noch die Grundlage für die Verträge zwischen Labels und Musikern. Der von ihm gegründete Verlag "Peermusic" ist immer noch aktiv.
Zusammen mit dem Gitarristen Lesley Riddle aus Kingsport beginnt A.P. Carter nun gezielt, in abgelegenen Dörfern der Appalachen Songs zu sammeln, als dessen Urheber er sich dann ausgeben kann, um an kommerziellen Aufnahmen mitzuverdienen. Er begründet damit eine Praxis, die bis heute in verschiedenen Ausprägungen in der Musikindustrie zu finden ist, und die für manche Musiker ein böses Erwachen bedeutet, nachdem der grosse Erfolg auf den Bühnen einmal ausgeblieben ist. So zweifelhaft diese Praxis auch scheinen mag - Durch Carter werden so hunderte Songs vor dem endgültigen Vergessen bewahrt.
Trotz der anfänglich guten Verkäufe lässt die Wirkung der Great Depression nicht lange auf sich warten. Die Absätze stagnieren Anfang der 30ger Jahre, und die Carter Family spielt hauptsächlich in den Schulhäusern der Communities, für Eintrittspreise zwischen 15 und 25 Cents. Bereits 1929 sieht sich A.P. gezwungen, für einige Zeit nach Detroit zu gehen, während Maybelle und ihr Mann in Washington D.C. versuchen, sich über Wasser zu halten.
Trotzdem kommen sie regelmässig für Aufnahmesessions zusammen. Da die beiden Frauen hauptsächlich mit den Kinder beschäftigt sind (Maybelle bekam ihre Tochter June 1929), liegt das Management bei A.P. und Ralph Peer. Die langen Reisen, die A.P. immer noch unternimmt, bringen nicht nur neues Material, sondern fordern auch einen Tribut: Sarah Carter verliebt sich in A.P.'s Cousin Coy Bayes und beginnt eine Affaire, die darin gipfelt, dass Coys Eltern nach Californien ziehen und ihn zwingen, mitzukommen. Sarah geht daraufhin wieder nach Rich Valley, wo sie ihre Kindheit verbrachte, und lässt die gemeinsamen Kinder bei A.P. Dies bedeute für ihn natürlich, das die Möglichkeit des Reisens unvermittelt stark eingeschränkt wird, so das sich Maybelle und Sarah, aus der Not eine Tugend machend, auf das Komponieren eigenen Materials konzentrieren müssen. 1932 erneuert Peer den Vertrag mit der Carter Family, diesmal aber nicht mehr für Victor, sondern unter seinem eigenen Namen. A.P. scheint doch nicht allzuviel gelernt zu haben, oder die wirtschaftliche Not diktiert es schlicht: Gegen 75$ pro Song verzichtet er auf sämtliche Urheberrechte.
Mitte der 30ger Jahre werden sich Sarah und A.P. langsam darüber klar, das ihre Ehe wohl endgültig gescheitert ist. Es gab ja schon in den Jahren zuvor Trennungen, doch diesmal gibt es kein Zurück - Sarah lässt sich scheiden. Trotzdem spielt die Carter Family weiterhin in gleicher Besetzung zusammen. Im Winter 1938 folgen sie einem Angebot der Consolidated Royal Chemical Corporation, die jedem Mitglied die bis dato ungehörte Summe von 75$ pro Wache für zwei tägliche Shows beim Sender XERA zahlt, und ziehen nach Del Rio, Texas. Da die maximale Sendeleistung für Stationen in den USA gesetzlich begrenzt wird, betreibt XERA einen 50.000 Watt-Sender in Mexico, der es ihm ermöglicht, einen Grossteil der USA mit seinem Programm zu erreichen.
In Califonien sitzt zu den Show-Zeiten der Carter Family mit absoluter Sicherheit immer jemand bestimmtes vor dem Radio: Coy Bayes. Und irgendwann passiert es: Sarah, mit der er lange keinen Kontakt mehr gehabt hatte, widmet ihm einen Song. Daraufhin verliert er keine Zeit mehr, packt seine Sachen, sucht Sarah in Texas und heiratet sie am 20 Februar 1939 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Del Rio.
Die Popularität der Carter Family befindet sich durch das Radio-Engagement 1941 auf dem Höhepunkt, doch sie steht unter einem schlechten Stern. Durch ein Broadcasting-Agreement zwischen den USA und Mexico muss XERA seinen Betrieb einstellen. Eine Coverstory über die Carter Family für das Life Magazine wird nicht gedruckt, da die Japaner in der Woche davor Pearl Harbour angreifen. Bis 1943 können sie noch für eine Station in North Calolina arbeiten, doch dieser Vertrag wird nicht verlängert, was das Ende der Original Carter Family besiegelt. Sarah zieht mit ihrem Mann nach Californien, A.P. geht zurück nach Maces Springs, wo er bis zu seinem Tod 1960 mit gebremstem Enthusiasmus einen Gemischtwarenladen betreibt.
1952 kann A.P. die Carter Family nochmal reanimieren, als er zusammen mit seiner Ex-Frau und ihren Kindern einen kleinen Freizeitpark namens Summer Park in Maces Springs eröffnet. Anfangs wurden noch einige Aufnahmen für das Acme-Label gemacht, doch der Erfolg bleibt aus und man trennt sich endgültig 1956.
Mehr Erfolg ist Maybelle und ihren Töchtern Anita, June und Helen beschieden, die bis weit in die 60ger Jahre als "Mother Maybelle and the Carter Sisters" auftreten. Im Zuge des Folk Revivals gibt es 1967 auch eine Reunion von Maybelle und Sarah beim Newport Folk Festival, doch ist auch dies nicht von Dauer. Ein letztes Mal spielen die beiden 1975 zusammen. Maybelle stirbt im Oktober 1978, Sarah folgt ihr drei Monate später.
Doch die lange Tradition der Carter Family ist nicht am Ende:
1968 heiratet June Carter Johnny Cash, und deren Kinder machen heute noch Musik.
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