Waldängste
Gerade sitze ich in der Küche, bin hundemüde vom Tag und trinke gezielt auf Bettschwere hin. Heute abend hatte ich noch ein Treffen mit meinem Managementopfer K., aber alles schleppte und zog sich und der Bratkartoffelversuch von heute Mittag will keine Ruhe geben. Hinter mir ist das Fenster offen und es bläst penetrant in den Rücken und zumachen ist blöd, weil ich erst die Katzengitter abnehmen muss, da friere ich lieber, und ich friere wirklich, und plötzlich ist sie da, die Erinnerung, wie eine Bewegung in den Augenwinkeln.
Ich muss noch sehr jung gewesen sein, vielleicht 12; es war wahrscheinlich meine Idee gewesen, auf eine Zeltlager-Freizeit zu fahren mit Menschen, die ich nicht kannte. Die Zelte waren auf einem Platz in der Nähe eines christlichen Erholungsheims aufgebaut, mitten in einem Wald. Ich weiss nicht, was wir da die ganze Zeit getrieben haben, irgendwelche Spiele wohl und ähnliches Zeug. Als besonderen Spass wurde uns die Einrichtung einer sog. Nachtwache verkauft; es wurden Zweierteams gebildet, die sich nach der Schlafenszeit alle zwei Stunden ablösen sollten, denn: Ein anderes Lager in der Nähe sollte uns angeblich in einer Nacht "überfallen", und das gelte es durch das Auslösen eines Alarms zu verhindern. Ausserdem musste alle halbe Stunde auf einem Rundweg "patroulliert" werden, um nach dem Rechten zu schauen.
Ich wurde dann also irgendwann von meinem Wachenvorgänger geweckt. Mein Teammitglied war ein älterer Junge, den ich noch nicht kannte und der so müde war, dass er sich im Küchenzelt sofort wieder auf eine Bank legte und wegnickte; dem ganzen Quatsch also die gebotene Wichtigkeit zumass. Aber was nimmt man mit 12 nicht alles ernst. Nach Ablauf der halben Stunde sah ich mich dann mit der Tatsache konfrontiert, die Patroullie durch den Wald alleine absolvieren zu müssen, da sich der Kollege nicht wecken liess. Ich versuchte, so erwachsen wie möglich zu sein, nahm die Taschenlampe und machte mich auf den Weg, und ich erinnere mich, dass mir wirklich unheimlich war. Kalt war es, der Rundweg führte recht weit vom Lager weg und liess einen das gesamte Areal umrunden, um schliesslich dann auf einem kleinen Trampelpfad wieder zum Ausgangspunkt zurückzuführen. Ich denke, ich werde mir den ganzen Weg eingeredet haben, das schon nichts passieren werde, was auch, die würden uns ja nie einer echten Gefahr aussetzen, aber der Wald macht nachts Geräusche, die ich nicht einordnen konnte. Das Licht der Taschenlampe liess alles noch verwischter aussehen und die Bewegungen sind nicht auszumachen.
Als ich dann wieder in die Nähe des Lagers kam, hörte ich Stimmen und sah Lichter, offenbar hatte ich etwas verpasst. Und tatsächlich: Der "Überfall" hatte während meiner Abwesenheit stattgefunden. Wasser wurde in Zelte gekippt, Heringe aus der Erde gezogen, Herumliegendes versteckt. Einen Alarm hatte es nicht gegeben, mein Kollege hatte es vorgezogen, tief und fest auf seiner Bank zu schlafen und sich bei Beginn des Spektakels wieder in sein Zelt zu verziehen. Als ich nun wiederkam fielen alle über mich her, da man mich für den feigen Versager hielt, die lieber abgehauen ist, statt heldenhaft für die Verteidigung es Vaterlagers zu kämpfen. Meinen Beteuerungen, ich hätte doch nur den mir befohlenen Rundgang gemacht, wurde nicht geglaubt und da ich noch nichtmal den Namen meines somnambulen Kollegen kannte, war es mit meiner Verteidigung nicht weit her und mein Sozialstatus verschwand auf nimmer wiedersehen in den Tiefen der Erde. Dabei hatte ich doch gerade erst brutalstmögliche Waldängste ausgestanden!
Ein paar Tage später holte mich dann mein einer grosser Bruder ab. Bis dahin war es nicht mehr dasselbe. Meinen Kollegen habe ich nie darauf angesprochen. In ein Zeltlager bin ich nie wieder gefahren.
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